Marktstraße 16/ Thomasstraße 19

Dieses Wohn- und Geschäftshaus repräsentiert eines der ausdrucksstärksten Gebäude in diesem Karree. Bauherr war der Barbier Richard Rüdiger, der zuvor in der Reihe 2-4 zur Miete wohnte und dort sein Handwerk, das Pflegen männlicher Behaarung, ausübte. Wahrscheinlich gehörte er zum aufstrebenden Mittelstand und war dem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Dies wollte er auch mit seinem neuen Haus, das Würde und Luxus ausstrahlt, demonstrieren.

Baumeister Arno Dassler verstand es, die Haltung seines Auftraggebers mit dem Vokabular des rationalistischeren Jugendstils elegant umzusetzen. Bereits drei Jahre vordem (1903) schuf er mit dem benachbarten Doppelhaus Marktstraße 12+14 / Thomasstraße 15+17 ein sehr markantes Bauwerk.

Anders als beim Doppelhaus löst sich Dassler hier vom Prinzip der Symmetrie. Mit den typischen geschwungenen Doppelgiebeln erzeugt dieser einen asymmetrischen Gesamteindruck zur Marktstraße.  Nach oben scheint sich die im Erdgeschoß lückenlose Natursteinverblendung dezent aufzulösen. Einzelne Vergoldungen bilden flimmernde Lichtpunkte. Zusätzliche Strukturen des Kammputzes und quadratische Keramikplatten mit blauer bzw. weißer Glasur bringen die Erker zu beiden Straßenseiten stilvoll zur Geltung. Mit der Verwendung des Quadrats wird eine Verbindung zur weltweit angesehenen Wiener Werkstätte nahegelegt, die vorrangig geometrisch-abstrakte Grundformen wie Quadrat und Würfel verwendete und dies gepaart mit der Reduktion der Farbigkeit auf Schwarz-Weiß bzw. Blau-Weiß. Die Wiener Werkstätte (1903-1932) war eine Produktionsgemeinschaft bildender Künstler und in ihrer Frühzeit dem Jugendstil verpflichtet.

Überproportional große und dominant wirkende starke männliche Masken tragen offenbar den gewichtigen Zwerchgiebel in der Thomasstraße. Diese sind von Kettengliedern umrahmt. Als Kopfschmuck trägt jede eine Fledermaus auf dem Haupt, die ihr als kraftspendendes Helfertier zur Seite steht. Viele Jugendstilkünstler mochten lieber das Geheimnisvolle als das Eindeutige. Es entspricht dem Sinn der Zeit, mythische Kräfte zu beschwören. Die Fledermaus will dabei helfen, sich von allem Krankmachenden zu verabschieden und ermutigt dazu, die eigenen Träume zu verwirklichen. Sie erscheint als Zeichen des Glücks und des Schutzes. Die Kette fungiert als ein altes Symbol der Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen zwei Extremen oder zwei Lebewesen. Die Komposition bleibt rätselhaft, übt aber gerade deshalb eine starke Anziehungskraft aus.

Bemerkenswert ist, dass dieses Hauses zu den aus Greiz ausgewählten Bauten gehört, die neben weiteren ostdeutschen Beispielen in einer fotodokumentarischen Ausstellung über Jugendstil-Architektur in der Deutschen Demokratischen Republik gezeigt wurden. Sie war ein Beitrag der DDR zur 1986 eingeleiteten internationalen UNESCO-Kulturstudie „Probleme der Erhaltung und Restaurierung von Jugendstilarchitektur“.

...Auszug aus dem Buch "Jugendstil in Greiz - Ein Kleinod an der Europäischen Jugendstilstraße"